(aus: Die humane Revolution, S. 250 - 254)
Eine Interessenvertretung der Humankapital-Investoren, also traditionell ausgedrückt, eine Wissensarbeiterbewegung, wird nötig sein, um ein Gegengewicht zu den bestehenden Lobbies aufzubauen und um eigene Themen auf die politische Agenda zu setzen. In welcher Form sich diese Interessenvertretung bilden wird, ist schwer zu sagen: Es können klassische Formen sein, also Lobby-Verbände, genauso gut aber auch etwas innovativere Formen, etwa Medien (einen Vorgeschmack davon bietet das "Cluetrain-Manifest") oder Netzwerke wie zum Beispiel Alumni-Vereinigungen.
Wozu soll man eigene Interessenvertretungen für Humankapital-Investoren schaffen, wo doch die Gewerkschaften seit jeher die Interessen der Arbeitnehmer vertreten?
Was sind Humankapital-Investoren schließlich anderes als Arbeitnehmer?
Die Gewerkschaften haben im vergangenen Jahrhundert einen entscheidenden Beitrag zur Durchsetzung der sozialen Revolution geleistet. Warum sollten sie nicht auch in der Lage sein, einen entscheidenden Beitrag für die Durchsetzung der humanen Revolution zu leisten?
Weil sie eben noch sehr, sehr, sehr tief im vergangenen Jahrhundert stecken.
Trotz intensiver Werbekampagnen ist bisher noch keine der deutschen Einzelgewerkschaften in den jeweils modernsten Sektoren ihrer Branche gut vertreten. Je weiter man sich von den traditionell stärksten Bastionen, den großen Industriebetrieben, wegbewegt, desto geringer wird der Einfluss der Gewerkschaften: 1998 waren, so das Ergebnis einer Umfrage des Instituts der Deutschen Wirtschaft, in den deutschen Industrieunternehmen 76,1 % aller Betriebsratsvorsitzenden Mitglied einer DGB-Gewerkschaft, im Dienstleistungssektor lag dieser Anteil nur bei 33,4, %. In der New Economy gibt es so gut wie nirgends Betriebsräte oder Gewerkschaftsmitglieder - bedingt durch die (meist kleine) Firmengröße, das (meist junge) Alter der Beschäftigten, die (meist sehr unindustrielle) Arbeitsweise und die (meist große) Nähe zwischen Häuptlingen und Indianern. Und wenn es doch mal jemand versucht, zur Gründung eines Betriebsrats aufzurufen, können die Eigentümer das oft genug wegkanalisieren. "Wenn ihr einen Betriebsrat gründet, zahlen wir nach Tarif", kommentiert zum Beispiel Sebastian Turner, Mitbegründer von Scholz & Friends Berlin, solche Anliegen - und hat deswegen auch mit 200 Beschäftigten noch keinen.
Es gibt allerdings keinen systematischen Grund, warum die Gewerkschaften nicht für eine Hauptrolle in der Wissensgesellschaft in Frage kommen sollten:
1. Sie haben ein lupenreines Image als Interessenvertreter der Arbeitnehmer.
2. Sie haben eine immer noch sehr gute Verankerung in den großen Unternehmen aller Branchen und in den Industriebetrieben jeglicher Größe.
3. Sie sind seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, auf der Suche nach Themen, die sie in Dienstleistungsbranchen, High-Tech-Firmen und bei übertariflich Bezahlten attraktiv machen könnten.
4. Wem sonst würden Sie glauben, dass etwas zu Ihrem Besten ist, was in erster Linie Ihre Arbeitsproduktivität steigern soll?
5. Wem sonst würden die Unternehmen glauben, dass etwas, das gegen ihre Interessen gerichtet scheint, dem langfristigen Interesse aller Beteiligten dient?
Die große Aufgabe der Gewerkschaft könnte darin bestehen, die Wissensgesellschaft für alle zu erschließen, jedem die bestmögliche Entfaltung seiner Potenziale zu ermöglichen - genauso, wie sie dafür sorgte, dass der Leistungslohn, den Henry Ford einführte, nicht nur den qualifizierten Facharbeitern zugute kam, sondern im Laufe der Jahrzehnte fast die gesamte Arbeitsbevölkerung der Industrieländer erfasste.
Gewerkschaften als Speerspitze der gesellschaftlichen Entwicklung? Das klingt etwa so wahrscheinlich wie Helmut Kohl im Big-Brother-Haus. Denn auch wenn sie schon einmal, vor langer, langer Zeit, Speerspitze waren, haben die Gewerkschaften doch inzwischen einen über die Jahrzehnte aufgebauten Apparat, der ungefähr so reformfähig ist wie die SED. Denn auch wenn sie schon einmal Speerspitze waren, ist es inzwischen wohl bis in die Gene der Gewerkschaftsfunktionäre vorgedrungen, dass sie die Interessenvertreter der Unterprivilegierten sind. Wie sollen sie da den gedanklichen Umschwung schaffen, die Interessen der Elite (unter anderem) zu vertreten? Und wie den organisatorischen Umschwung? Für mehrere Jahrzehnte zumindest müssten sie Industrie- und Wissensarbeiter, tarifliche und außertarifliche Ziele parallel im Auge behalten - wie sollen die Gewerkschaften diesen Spagat schaffen?
Und wenn sie ihn schaffen, wie können sie verhindern, dass sich ihre klügsten Köpfe auf die Seite der Wissensarbeiter schlagen, wo die weit spannenderen Aufgaben winken?
Doch auch wenn der aktuelle Zustand der deutschen Gewerkschaften jämmerlich ist und es aussichtslos scheint, auf Besserung zu hoffen: Unter den ganz wenigen Standortfaktoren, bei denen Deutschland der gesamten globalen Konkurrenz voraus ist, nehmen die Gewerkschaften noch immer einen herausragenden Platz ein.
o Nirgends in der Welt haben sich Gewerkschaften so sehr die - arbeitnehmerfreundliche - Steigerung der Arbeitsproduktivität zur Aufgabe gemacht wie hier in Deutschland.
o Noch immer gibt es nirgends in der Welt stärkere und klügere Gewerkschaften als hier in Deutschland.
Seit längerem schon sind wir dabei, diesen Standortvorteil zu verspielen. Medien, Politik, Arbeitgeber und natürlich die Gewerkschaften selber haben dazu beigetragen, die Gewerkschaft in eine rein defensive, rückwärtsgewandte, strukturkonservative Ecke zu bugsieren, aus der heraus sie keinerlei Impulse für die Zukunft zu geben in der Lage ist.
Wenn es ihnen nun gelingen würde, die Meinungs- und Handlungsführerschaft bei der humanen Revolution zu erringen, hätte Deutschland einen Wettbewerbsvorteil in der globalen Konkurrenz, der nicht so leicht einzuholen wäre: wer die Erfolge einer starken Gewerkschaft kopieren will, braucht dazu erst einmal eine starke Gewerkschaft - und wer hat die schon?