(aus: Die humane Revolution, S. 76 - 88)
Was ist das Wesen der Marktwirtschaft? Die Freiheit zu eigener Entscheidung im Rahmen der Normen und Gesetze der Gesellschaft.
Was ist das Wesen der Planwirtschaft? Die Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten gemäß dem Ratschluss eines Führungsgremiums.
Welche dieser beiden Definitionen passt besser auf Ihren Arbeitsalltag?
Eben.
Wer den größten Teil seines Lebens im real existiert habenden Sozialismus verbracht hatte, konnte in den letzten Jahren verwundert feststellen, dass die internen Verhältnisse in kapitalistischen Unternehmen vieles mit den politischen Verhältnissen im Sozialismus gemeinsam haben:
- Die Unternehmensleitsätze, die heute überlebensgroß an die Werkshalle gemalt werden, unterscheiden sich kaum von den Spruchbändern, die in der DDR die Landschaft verunzierten.
- Die zentral vorgegebenen Budget- und Umsatzplanungen unterscheiden sich weder in Anspruch noch in Wirklichkeit vom planwirtschaftlichen System des Sozialismus.
- All die brüllenden oder schmeichelnden Motivationsseminare dienen letztlich nur einem Zweck: die Interessen des Unternehmens zu meinen eigenen zu machen, im Klartext also: die eigenen Interessen zu vernachlässigen, wenn sie denen des Unternehmens zuwider laufen sollten. Im Sozialismus wurde mit ähnlichen Instrumenten der Weg "vom Ich zum Wir" beschritten - natürlich genau so erfolglos.
- Die Betriebszeitungen beschreiben den tatsächlichen Zustand im Unternehmen und die Stimmung der Belegschaft etwa genau so zutreffend wie das "Neue Deutschland" bis zur Wende den Zustand der DDR und die Stimmung ihrer Bewohner.
- Auf allen Ebenen wird teamorientierter Führungsstil und Offenheit für Kritik propagiert. Aber wehe, jemand nimmt die hehren Worte ernst. Ihm wird es genau so ergehen wie Wolf Biermann oder Freya Klier: Wer zu lästig wird - fliegt einfach raus.
- Auf der Hauptversammlung, der formal höchsten Instanz des Unternehmens, wird im Regelfall nicht debattiert und entschieden, sondern zugehört und per Akklamation beschlossen. Alle Entscheidungen sind de facto schon längst getroffen, wenn die Sitzung beginnt. Das war in der DDR-Volkskammer auch nicht anders.
Privatwirtschaftliche Unternehmen, diese Kathedralen des Kapitalismus, sind neben Kuba und Nordkorea die letzten, die noch Planwirtschaft und demokratischem Zentralismus praktizieren. Und anders als Fidel Castro und Kim Jong-Il tun sie dies auch noch mit bestem Gewissen und im sicheren Gefühl, auf der Seite des welthistorischen Siegers zu stehen.
Natürlich sind die beiden Systeme nicht deckungsgleich. Neben den augenfälligen Gemeinsamkeiten gibt es auch ebenso offensichtliche Unterschiede zwischen den sozialistischen Diktaturen und den kapitalistischen Unternehmen:
- Die Grenzen der Unternehmen sind offener als es die der DDR waren. Es gibt kein Pendant zu Mauer und Schießbefehl.
- Eine Kontrollfunktion, wie sie in der westdeutschen Unternehmensverfassung der Aufsichtsrat wahrnimmt, existierte im politischen System der DDR nicht.
- Das sozialistische System war ideologisch und deshalb nicht in der Lage, Änderungen am System zuzulassen. Kapitalistische Unternehmen sind pragmatisch: Sie arbeiten mit einem System, das sich bisher bewährt hat, und werden nicht zögern, es für ein besser geeignetes zu opfern - bevor sie einer moderneren Konkurrenz zum Opfer fallen.
Diese Unterschiede laufen allerdings eher darauf hinaus, dass die interne Unternehmensorganisation etwas anderes werden kann als ein planwirtschaftliches System - nicht darauf, dass sie etwas anderes ist.
Damit bleibt nur ein, scheinbar entscheidender Unterschied zwischen den beiden Systemen: Die auf Planung und Zentralismus aufgebaute politische Ideologie ist seit 11 Jahren bankrott, die auf Planung und Zentralismus aufgebaute unternehmerische Praxis scheint hingegen vitaler und potenter als jemals zuvor. Was auf volkswirtschaftlicher Ebene untauglich war, ist offensichtlich auf betriebswirtschaftlicher Ebene effizient.
In der Tat: So ist es.
Gewesen.
Tatsächlich dürfte den großen Konzernen in den nächsten Jahren das bevorstehen, was die ehemals sozialistischen Staaten im vergangenen Jahrzehnt hinter sich gebracht haben - der Zusammenbruch ihrer Machtbasis und die verzweifelte Suche nach einer neuen Existenzgrundlage: Der planwirtschaftliche Sozialismus war der Komplexität der modernen Industriegesellschaft nicht gewachsen. Und die planwirtschaftlichen Unternehmen werden an der Komplexität der modernen Wissensgesellschaft scheitern.
Planwirtschaft und Zentralismus sind konkurrenzfähige Systeme, wenn es um relativ einfache Prozesse geht, die mit wenigen Variablen gesteuert werden können. Auf volkswirtschaftlicher Ebene ist ein solcher Prozess beispielsweise der Übergang von einem Agrar- zu einem Industriestaat. Doch wenn der Aufbau von Schwerindustrie und Infrastruktur erst einmal geschafft ist, bleibt nicht mehr viel, das man so exakt planen kann. Das planwirtschaftliche System war heillos damit überfordert, die Konsumbedürfnisse von Millionen von Menschen zentral zu erfassen, zu planen und zu lenken - von den Konsumwünschen ganz zu schweigen. Dazu gesellte sich der Innovationsdruck, dem das System durch äußere Einflüsse ausgesetzt war: durch Krisen wie den Ölschock von 1973 oder durch neue Technologien wie die Mikroelektronik.
Damit war der Wettlauf der Systeme entschieden. Das multizentrale, marktwirtschaftliche Konkurrenzmodell, das eine Zeitlang einholbar nah erschienen war, spielte gerade in der Komplexität seine Stärken aus. Die Diktatur war einem politischen System von Checks and Balances, die zentrale Planwirtschaft der dezentralen Marktwirtschaft unterlegen - die unsichtbare Hand des Marktes siegte über den starken Arm der Diktatoren.
Volkswirtschaften sind vergleichsweise komplex strukturierte Systeme, Unternehmen sind dagegen weit einfacher strukturiert. Auch die größten Konzerne werden zu jedem beliebigen Zeitpunkt weit weniger komplex aufgebaut sein als die Bundesrepublik Deutschland zur gleichen Zeit. Aber das ist hier nicht der Maßstab - der Maßstab ist die DDR-Volkswirtschaft zu Beginn der Ära Honecker. Könnte es sein, dass Daimler Chrysler inzwischen einen Komplexitätsgrad erreicht hat, der dem dieser zentralistischen Entwicklungsdiktatur entspricht?
Viele Firmenlenker, die sich, mit weniger oder mehr Berechtigung, etwas auf ihre Steuerkünste in Industriekonzernen einbildeten, fühlen sich seit einigen Jahren immer häufiger wie Fahrschüler. Die Herrschaftsinstrumente, die sie sich in der Industriegesellschaft angeeignet hatten, sind in der Wissensgesellschaft weit schlechter einsetzbar. Sowohl im internen als auch im externen Verhältnis der Unternehmen haben die Komplexität erzeugenden Situationen stark zugenommen:
- Die zunehmende Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen führt ebenso zum plötzlichen Auftauchen neuer Konkurrenten wie die Verschmelzung ehemals strikt getrennter Branchen.
- Die Entwicklung der Kapitalmärkte führt dazu, dass auch neue, kleine Konkurrenten aus scheinbar völlig fremden Branchen die alteingesessenen Großen in Gefahr bringen können.
- Das steigende Ausmaß von Team- und Projektarbeit schafft interne Vernetzungen, die von oben weder erkennbar noch steuerbar sind.
- Neue Kommunikationstechniken erlauben es immer mehr Beschäftigten, die ursprünglich fest gefügten Grenzen ihrer Abteilung zu durchbrechen und Kontakte zu Kollegen rund um den Globus zu knüpfen.
Es sieht nicht so aus, als könnte diese Komplexität mit Planwirtschaft und Zentralismus noch lange gemanagt werden. Der Versuch, es doch zu tun, führt zwar noch immer zu rentabler Produktion, erreicht dies aber nur durch eine gigantische Verschleuderung der wichtigsten Ressource, die es in der Wissensgesellschaft gibt: des Humankapitals der eigenen Mitarbeiter. Diese Vergeudung erreicht in den Unternehmen von heute ein ähnlich hohes Ausmaß wie die Vergeudung von Sach- und Finanzkapital in den finstersten Zeiten der Planwirtschaft.
"Alle Unternehmen suchen nach unentdeckten Wertreserven. Die menschliche Individualität ist die größte", schreibt der Managementberater Reinhard Sprenger. Und sogar dieser Superlativ beschreibt nur unzureichend, welches Potenzial in all den Menschen steckt, die bisher nur dafür bezahlt werden, das zu tun, was das Unternehmen von ihnen verlangt . Würden sie das tun können, was das Unternehmen nicht von ihnen verlangt, das, was sie am besten können, das, was sie am liebsten machen, das, was sie selbst für zukunftsträchtig halten, kurz: würden sie am Arbeitsplatz so marktwirtschaftlich agieren können wie sie es als Konsument gewöhnt sind, würden sich daraus in ihrem Ausmaß nicht annähernd abschätzbare Produktivitätspotenziale ergeben. Die Beschäftigten wären mehr Geld wert, als sie sich selbst überhaupt vorstellen können.